(eh) Eine Bühne, eine Geschichte, eine Gruppe von engagierten jungen Frauen. Mein Erfahrungsbericht über eine Theateraufführung voller Magie.
Melodisches Summen begrüßt uns, als wir den Saal betreten. Der Raum ist nur spärlich beleuchtet, die Bühne liegt beinahe im Dunkeln. Die Plätze im Zuschauerraum füllen sich schnell. Eine prickelnd-erwartungsvolle Stimmung liegt in der Luft. Die letzten Plätze werden besetzt, letzte Taschen abgestellt und Jacken über Stuhllehnen gehängt, mit einem leisen Klicken und kurzem Aufblitzen letzte Fotos geschossen, dann gehen die verbliebenden Lichter aus.
Für einen Moment hüllt uns Dunkelheit ein, das vielstimmige Summen bleibt, schwillt an. Die Beleuchtung nimmt langsam zu und taucht schließlich die Bühne in warmes Licht. Es ist, als könnte man kleine Staubkörnchen durch die Luft wirbeln sehen, als könnte man durch ein offenes Fenster ganz schwach das Zwitschern von Vögeln hören. Das Licht malt eine Atmosphäre der Ruhe. Eine Atmosphäre des inneren Friedens.
Die Darsteller*innen sitzen über die ganze Bühne verteilt und heben sich durch ihre in eher hellen, beigen Tönen gehaltene Kleidung vom dunkleren Boden ab. Sie haben die Zuschauer*innen schon jetzt in ihre Welt gezogen und werden sie nicht wieder gehen lassen, bevor der letzte Applaus verklungen und der Vorhang gefallen ist.
Janis Ian ist Society's Child
Die Wand im Hintergrund der Bühne zeigt ein Video. Eine Frau. Janis Ian, die Hauptprotagonistin des Stückes und Autorin der Buchvorlage „Society's Child“. Die amerikanische Singer-Songwriterin spricht eine kurze Einleitung und das Stück beginnt. Ein Streifzug durch die Geschichte. Eine Reise durch Ians Leben.
Janis Ian wird 1951 geboren. Früh beginnt ihr Vater, sie das Klavierspielen zu lehren und sie fängt an, eigene Lieder und Texte zu schreiben. Später wird sie zum Weltstar, gewinnt zwei Grammys, einen 1975 für ihre Hit-Single „At Seventeen“ den zweiten im Jahre 2013 für ihre Autobiographie „Society's Child“. Doch ihr Weg zum Ruhm ist gesäumt von unzähligen Hürden und liegt nicht selten in tiefsten Schatten.
In der Interpretation des Ensemble Artig begleiten wir Ian durch ihre Kindheit und Jugend im konservativen Amerika der 60er Jahre und erleben, wie aus einem Mädchen aus einer Kleinstadt eine junge Frau wird. Wir gehen mit ihr durch den Prozess des Erwachsenwerdens, entdecken mit ihr sowohl die schönen als auch die dunkleren Seiten des Lebens und, vor allem, gehen mit ihr den Weg zur Selbstfindung.
Musik und Licht
Das Ensemble Artig überzeugt durch wahre Kunst des Theaters. Die jungen Menschen auf der Bühne spielen nicht bloß ihre Rolle, sie leben sie. Sie singen die Lieder Janis Ians. Mal begleiten sie sich selbst, mal singen sie A capella. Sämtliche musikalische Untermalung wird live gespielt, die Darstellerinnen brauchen nicht mehr als eine akustische Gitarre und ein altes Klavier in der hinteren Ecke der Bühne. Das Zusammenspiel von Schauspiel, Musik und Licht ist faszinierend, so erkennt man Stimmungswechsel im Stück beispielsweise an der Art der Beleuchtung. Im einen Moment befinden wir uns im Wohnzimmer von Ians Familie, warmes Licht durchflutet den Saal und lässt die Bühne zu einem weiten, gemütlichen Raum werden, doch kaum ein paar Minuten später erhellt ein scharfer weißer Lichtkegel im Hintergrund der Bühne eine Person auf einem einzelnen kahlen Stuhl. Sie dreht den Rücken zum Publikum, während uns Janis Ian im Vordergrund in Form weiterer Darstellerinnen erzählt, wie ihr Zahnarzt sie im Alter von 13 Jahren physisch und psychisch missbraucht und belästigt.
Kreative Besetzungen
Es gibt keine kontinuierliche, feste Verteilung von Rollen. Was am Anfang vielleicht verwirrend scheinen mag, trägt maßgeblich zum Charme der Adaption bei. Das Ensemble Artig fungiert als Ganzes. Die Dynamik zwischen den Darstellerinnen stimmt und sie ziehen das Publikum mit jeder Szene mehr und mehr in ihren Bann. Die generelle Atmosphäre des Stückes hat etwas Mystisches, Unbegreifliches an sich und ich kann meinen Blick bis zum Schluss nicht abwenden. Ich merke gar nicht, wie die Zeit vergeht, während ich auf dem mir zugewiesenen schwarzen Klappstuhl in einer der oberen Reihen des ausverkauften Theaters am Pumpenhaus sitze. Zu Anfang halte ich mein Handy in der Hand, habe Block und Stift auf den Knien liegen, bereit, mir Notizen zu machen. Doch je länger das Stück andauert, desto mehr fühlt es sich wie ein Verbrechen an, irgendetwas anderes zu tun, als das Geschehen auf der Bühne zu bewundern.
Als das Stück schließlich mit einem weiteren kurzen Film über das weitere Leben Ians und den Entstehungsprozess des Theaterstückes endet, ist der Applaus überwältigend. Später strömen Eltern, Freunde und Verwandte auf die Bühne und gratulieren den Held*innen des Abends, die während der Corona Zeit so viel durchstehen mussten, bis diese Premiere stattfinden konnte.
Interview
Marlene Hendler während ihres Auftritts. © francamachtfotosSpäter spreche ich mit Marlene Hendler, einer der Darstellerinnen. Wir kennen uns, schließlich ist auch sie Redakteurin bei Kanello.
Zunächst gratuliere ich ihr zu ihrer tollen Vorstellung auf der Bühne und bedanke mich für die Einladung. Anschließend kann ich ein paar der Fragen loswerden, die mir schon seit Beginn des Theaterstücks auf den Nägeln brennen. Besonders interessiert mich, wie sie als Jugendliche zur Schauspielerei gekommen ist und was das Theater ihr bedeutet.
„Den Anfang haben denke ich die anderen Theater AGs an unserer Schule gemacht“, erzählt Marlene. Dort habe sie sich in der fünften Klasse einfach einmal eingetragen, nichtsahnend, welche Rolle Theater später in ihrem Leben spielen würde. Durch diese AGs habe sie dann irgendwann auch angefangen, sich die Stücke anderer Produktionen anzusehen und sei dabei dann schlussendlich auf die Projekte des Ensemble Artig gestoßen.
„Ich wusste, dass es ein Ensemble nur für die Oberstufe ist, und als ich alt genug war, wollte ich unbedingt auch mitmachen.“, erinnert Marlene sich. Rückblickend sieht sie diesen Schritt als eine gute Entscheidung. „Ich liebe es, wie Theater Menschen begeistern kann und welche Wirkung man bei den Zuschauenden erzielen kann.“
Auch das Ensemble selbst sei, vor allem in der intensiven Probenzeit vor der Premiere, beinahe zu ihrer zweiten Familie geworden. „Man kann beim Theaterspielen genau die Dinge machen, die man sich im normalen Leben nicht traut oder die sonst als komisch abgestempelt werden. Aber in dieser Gruppe sind dann nur Menschen, die die „komischen“ Sachen mit dir zusammen machen und das ist einfach ein einzigartiges Gefühl“, erklärt sie.
Weiterführend frage ich Marlene nach dem Entstehungsprozess des Stückes. Ich finde es faszinierend, mit wie viel Selbstbewusstsein die Darstellerinnen auftreten und möchte wissen, ob sie am Drehbuch mitgewirkt haben und wie die Wahl auf dieses spezielle Thema gefallen ist. Marlene erklärt, dass die Themen von Christian Reick, dem Spielleiter des Ensembles, bestimmt würden. „Damit kann man zufrieden oder unzufrieden sein, es ändert nichts und am Ende kommt etwas Tolles dabei raus.“
Das Skript jedoch werde dann von allen zusammen geschrieben. „Wir hatten natürlich das Buch als Vorlage und haben uns dort einzelne Stelle ausgesucht, die das Leben von Janis Ian prägten.“, erzählt sie. Aus diesen Stellen seien dann im weiteren Verlauf Theaterszenen entstanden. So weit so gut, doch Marlene erinnert sich auch an die anfänglichen Schwierigkeiten. „Am Anfang hat es sich angefühlt, wie ein einziges Durcheinander. Wirklich zusammengekommen ist das Stück erst auf dem Probenwochenende, ein Wochenende an dem wir als Ensemble wegfahren und an unserem Stück arbeiten.“ Nach diesem Wochenende habe dann aber endlich das Grundgerüst gestanden.
„Und was kam dann?“, frage ich und Marlene zuckt mit den Schultern. „Dann hieß es proben, proben und noch mehr proben.“ Sie hält kurz inne und fügt lachend hinzu: „Und natürlich Gitarre spielen und singen lernen, aber was tut man nicht für eine gelungene Inszenierung.“
Zum Schluss frage ich Marlene, was sie aus dieser aufregenden Zeit für ihre Zukunft mitnehmen wird. Die Antwort kommt ohne Zögern. „Auf jeden Fall die Erfahrung, vor so vielen Leuten auf der Bühne zu stehen. Das Gefühl von Adrenalin kurz vor jeder neuen Vorstellung, die paradoxe Gelassenheit, wenn man dann endlich vor dem Publikum steht und diese unendliche Erleichterung, wenn der Schlussapplaus erklingt und man weiß: Wir waren richtig gut.“ Richtig gut. Das war die Vorstellung an diesem Abend auf jeden Fall.
Außerdem erzählt Marlene, wie viel sie in der vergangenen Zeit über die Arbeit im Ensemble gelernt hat. Sie wisse jetzt, dass alle mitmachen müssten, damit es funktioniert. Manchmal müsse man dann auch Artig über andere Dinge setzen und, zumindest für einen gewissen Zeitraum, zur Priorität machen. Vor allem jedoch wird Marlene das Arbeiten und Kreativsein in der Gruppe positiv in Erinnerung bleiben, sagt sie. „Es macht einfach Spaß in dieser Gruppe zu arbeiten mit Menschen, die einen immer wieder herausfordern, über den eigenen Schatten zu springen.“
Sie sei sehr froh, noch bei hoffentlich zwei weiteren Produktionen des Ensembles mitwirken zu können. Schließlich produziert das Ensemble Artig jährlich ein neues Stück. Wenn die Termine für eine neue Vorstellung dann feststehen, sagt sie mir Bescheid, verspricht Marlene zum Abschluss. Darauf freue ich mich jetzt schon.
Berauschendes Erlebnis
Ich verlasse das Theater am Pumpenhaus an diesem Abend mit gemischten Gefühlen. Für mich war es die erste Kulturveranstaltung seit Beginn der Corona Pandemie und ich bin etwas durcheinander, weiß nicht so recht, wohin mit den vielen Emotionen und Eindrücken.
Vor allem anderen aber bin ich tief beindruckt. Das Ensemble Artig hat es geschafft, mir das Leben einer Frau nahezubringen, von der ich bis zu diesem Tag zugegebenermaßen noch nie gehört hatte. Die Interpretation von „Society's Child“ hat mich fasziniert und zum Nachdenken gebracht.
Als ich vom Pumpenhaus nach Hause fahre, möchte ich am liebsten direkt mit dem Artikel anfangen. Ich möchte versuchen, die Stimmung des Kunstwerkes, das so viel mehr ist, als ein Theaterstück, einzufangen. Worte werden jedoch nie dem wirklichen Zauber gerecht werden können.